Ernst Krähmer, Variations brillantes op. 18
Die Variation als Verwandlungsprinzip bildet eine uralte Tradition nicht nur in der Musik: Als Metamorphosen aus der griechischen Mythologie bekannt, sind Variationen im Kern ein Grundprinzip jeglicher Kommunikation: Neues mitteilen, das Verstehen der Botschaft aber durch ausreichend Bekanntes ermöglichen. Evolution beschreibt genau diesen Vorgang.
Für musikalisches, überhaupt für künstlerisches Material bedeutet dies, die Vielfalt der Einfälle in einer nachvollziehbaren Einheit zu entfalten, salopp gesagt, alles unter einen Hut zu bringen, damit zusammenwächst, was zusammengehört.
Große gattungsgeschichtliche Beispiele der Variation hat es schon vor Bach gegeben, vor allem in der Orgelmusik in Form von Choralvorspielen, aber in der Cembalo- und Klaviermusik sind die berühmtesten Beispiele zu finden: Hier pflegt man Bachs Goldberg-Variationen in einer Traditionskette mit Beethovens Diabelli-, Brahms´ Händel-Variationen und Schumanns Symphonischen Etüden als Gipfelwerke der Variationsliteratur vorzustellen.
Ein inflationäres Aufkommen von Variationsreihen prägte den Bravourstil des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Den Titel Variations brillantes tragen hunderte von Werken, die meist populäre Melodien aus beliebten Opern ihrer Zeit als Thema verwenden, das dann in zahlreichen Variationen verarbeitet wird.
Auch Krähmer hat in diesem Fall eine Opernmelodie gewählt - sie stammt aus Rossinis La donna del lagho - genauer gesagt, es handelt sich um die Cavatine Ah! Come nascondere - und in einer kleinen Serie zu sechs Variationen für Csakan und Klavier verarbeitet, die letzte steht ausdrücklich im Zeichen der Con Bravura-Virtuosität.
Das C-Dur-Thema ist streng periodisch in zwei Achttaktperioden mit Ganzschluss gegliedert, zwischen die eine Viertaktperiode in Moll eingeschoben wird, deren erste Hälfte sich halbschlüssig nach E-Dur und deren zweite Hälfte sich dominantisch rückmodulierend nach C-Dur wendet. Vorangestellt ist eine Introduktion im französischen Ouvertürenstil.
Der Umkreis der im Zyklus durchmessenen Tonarten ist auf C-Dur und dessen Variante c-Moll sowie kürzere Ausweichungen in die Paralleltonart a-Moll begrenzt. Damit wird die Tradition der üblichen Minore-Variation übernommen, und überhaupt scheint zunächst nichts Unkonventionelles in dieser Variationenfolge zu liegen. Die Klavierbegleitung ist - abgesehen von der sehr orchestral gedachten Einleitung - ohne substanzielle Verluste auch durch eine Gitarrenbegleitung ersetzbar. Was die Konvention angeht, so fällt ein beinahe durchgängig achttaktig-periodischer Phrasenbau auf, der interessanterweise nur an den formal exponierten Stellen (Introduktion, Coda, Mollvariation) für je eine einzige Ausnahme durchbrochen wird.
Umso bemerkenswerter dagegen der Flötenpart: Zwischen rasanten Läufen der 1., 3. und 6. Variation, schnellen Repetitionen (4. Variation, ausdrücklich mit Doppelzunge auszuführen) sowie der raffinierten Staccato-Variation (Nr. 2) und einer bemerkenswert frühromantischen Unendlichkeitsmeldodie in der Minore-Variation (Nr. 5) wird ein wahrer Kosmos der Flötentechnik durchlaufen. Bemerkenswerte Ansprüche stellt Krähmer an die Atemtechnik, vor allem in der gesamten 17-taktigen Coda, die idealerweise auf einen Atem gespielt werden soll - jedenfalls ist keine einzige sinnvolle Zäsur vorgesehen, was offenbar der beim Csakan gegebenen Möglichkeit zur Permanentatmung geschuldet ist, Blockflötisten jedoch schnell an die Grenzen des Menschenmöglichen bringt.
© 2012, Peer Findeisen